Estland. Ein kleines Land im nordöstlichen Eck Europas. Bekannt für seine Digitalisierung. Die Geschichte der Soviet-Union stets präsent. Eine Stadt am Meer mit ertragbarem Wetter, das perfekte Reiseziel für zwei reiselustige Freundinnen. Auf viele Arten war die Reise genau, was ich brauchte. Das Entdecken von etwas Neuem. Die Freiheit, nur für mich zu existieren. Das Rauskommen aus dem Trott. Die Möglichkeit, mich zu erden. Letzteres eher überraschend.
DONNERSTAG – Mein kleines Wunder schläft am Donnerstag ein, während sie meine Hand hält. Ich sehe sie an, wie sie schläft und will fast nicht aufstehen. Nach dem Abschied rollen Tränen, ich kann nicht glauben, dass ich einfach allein weggehe und dass ich meine Familie schon vermisse, obwohl ich noch nicht mal aus dem Haus bin. Meine 3 Stunden nach Frankfurt lassen sich als durchwachsen bezeichnen, die mega vielen LKWs auf den Straßen und damit überfüllten Rastplätze und -höfe sind erschreckend. Ein schöner Moment ist der Anblick von Karlsruhe zum Sonnenuntergang mit den Vogesen im Hintergrund. Mit der Dunkelheit kommt der Regen und ich bin froh, als ich endlich da bin.






FREITAG – Am Freitag nach irgendwie nur sechs Stunden Schlaf meinerseits werden meine Freundin und ich an den Flughafen gefahren. Nur mit Handgepäck bin ich noch nie geflogen und ehrlich gesagt hab ich noch nie so wenig gepackt. Sehr angenehm und auch für Stoma-Träger kein Problem. Die Platten habe ich alle vorgeschnitten – also keine Schere dabei – und alle etwaigen Sprays und Flüssigkeiten gibt es in kleiner Ausführung. In Frankfurt stehen natürlich die neuen Körperscanner, durch die ich seit Anbeginn meiner Stoma-Zeit noch nie ohne zusätzliche Kontrolle gekommen bin. Sie erkennen Dinge jedes Materials, die AM Körper sind. Der Beutel wird jedes Mal erkannt, jedenfalls bei mir. Auch wenn er leer ist. Ich bin deswegen inzwischen proaktiv und sage, dass ich ein Stoma habe. Beim Scannen allein dachte der Mitarbeiter, ich habe Sorge, das Baby in meinem Bauch würde Schaden beim Scannen erfahren („Ich habe ein Stoma“ hört sich definitiv an wie „Ich habe ein Baby“ – oh Mann, nein natürlich bin ich nicht schwanger, nur dick). Nach kurzer Erklärung, dass es sich um einen künstlichen Darmausgang handelt, wollte er mich am liebsten gleich ganz durchwinken, obwohl die Nachkontrolle mich komplett abtasten wollte. Auch sie war völlig im Dunkeln, was denn ein Stoma sei. Tatsächlich kann ich das nicht verstehen, da mir in den fast acht Jahren Fliegen mit Stoma fast nie jemand gegenüber steht, der weiß, was das ist. Sollte das Personal, das in direkte Berührung mit dem Passagier kommt, nicht über körperliche Behinderungen bzw. medizinische Hilfsmittel, die am Menschen befestigt sind, aufgeklärt sein? Ich finde schon, versuche aber in all den Situationen unterstützend und aufklärend zu sein. Im Flugzeug schlafen wir ein bisschen und der Landeanflug ist bei mir wieder Übelkeit-Auslöser. Mit Handgepäck rollen wir also raus nach Tallinn, leider nicht easy peasy mit der Tram, sondern halbherzig und chaotisch mit Bus. Denn Tallinn ist seit vielen Monaten im Baustellenwahn, um neue Tramlinien zu etablieren und ein Ende ist auch laut den Einheimischen nicht in Sicht. Die letzten Meter zum Hotel machen wir zu Fuß und stolpern zum ersten Essen in ein Restaurant. Im Künstlerviertel, mit ganz viel Industrial Look in and out, Graffiti an den Wänden und ganz vielen bunten Leuten. Das ist interessant und macht Spaß. Wir checken ein ins Container-Hotel, einer alten Fabrikhalle mit fast hundert Schiffscontainern. In einem davon wohnen wir jetzt. Coole Idee. Den Rest des Tages verbringen wir in der nahegelegenen Markthalle Balti Jaama Turg mit dem Stöbern durch vollgestopfte Gänge mit „Antikem“ und Essen. Früchte und Gemüse sieht verführerisch aus und die Antike schreit nach Soviet-Union und nach Erinnerungen aus meiner Kindheit mit alten Dingen aus der DDR. Mein Besuch des Behindertenklos führt mir vor Augen, dass auch in Estland unsichtbare Einschränkungen nicht genug aufgeklärt sind und ich die Sprache nicht beherrschen muss, um zu verstehen, dass sich mehrere Frauen bei meinem Verlassen des Klos aufregen, was ich darin zu suchen habe. Wir trinken und essen in einer Dschungel-Bar im Freien und genießen den Abend. Zum Abschluss gehen wir noch in den Supermarkt und watscheln interessiert an den Regalen vorbei mit dem Ergebnis, dass wir uns Proviant einkaufen. Zurück im Container richten wir uns ein und ich muss noch einen Unfall meiner Versorgung richten. Da muss ich vorhin nicht richtig im Behindertenklo geklebt haben, nicht weiter schlimm und früh genug gemerkt. Ich habe Unfälle beim Packen mitgerechnet, man weiß ja schließlich nie. Dann fallen uns die Augen zu, so wie früher, als wir kurzzeitig vor 15 Jahren zusammen auf kleinstem Raum wohnten. Das klappt ganz gut und es ist erstaunlich still in und um den Container.






SAMSTAG – Ganz schön viele Eindrücke für einen Tag. Aber fangen wir vorne an, beim Frühstück. Klein, aber gut sowie mit Kaffee starten wir in den Tag, wir besprechen den Schlachtplan unter anderem mit der Einsicht, dass dank des halben aufgerissenen Zentrums und ausfallenden Trams plus geänderten Routen von nun an größere Strecken mit Uber komfortabel zurückgelegt werden. Zu Fuß machen wir uns am Morgen auf in Richtung Wasserflugzeughanger mit maritimen Museum samt U-Boot und Eisbrecher. Alleine beim Hanger macht man große Augen und das Konzept, den großen Raum innen in Luftraum, Wasseroberfläche und unter Wasser aufzuteilen, ist wunderbar umgesetzt. Auch im Außenbereich ist der Eisbrecher ein richtiger Hingucker. Wir essen eine Kleinigkeit mit dem Blick auf mehrere Kreuzfahrtschiffe und dem Fernsehturm in der Ferne. Genau zu diesem fährt uns dann unser erster und bester Uber-Fahrer. Er erzählt uns von dem Verkehrschaos und dem Bürgermeister, der seinem Mitbürgern empfiehlt, sich mit dem Chaos abzufinden. Er erzählt von den Russen, die hier wohnen und der Stimmung im Land. Und auch davon, dass die Menschen in Estland früher ursprünglich lang Heiden waren und mit vielen Einflüssen inzwischen unterschiedliche Glaubensrichtungen ausgeübt würden, aber nicht alle. Ganz nebenbei macht er noch auf Fremdenführer und erklärt uns, woran wir während der Fahrt vorbeikommen. Der Fernsehturm sorgt für eine unvergessliche Erfahrung, denn wir gucken nicht einfach nur oben raus, nein. Wir machen den „walk on the edge“ ohne Gitter auf dem Betonrand in 175 Meter Höhe mit Sicherung und Blick auf Tallinn. Meine Freundin und ich sind alleine draußen und unser Guide hilft uns nicht nur an den Rand heran, sondern verhilft uns auch zu vielen Informationen zur Region, der Soviet-Union und seinen Überbleibsel. Ich habe Höhenangst und ich war mega stolz auf mich, dass ich mich getraut habe. Die Sicherung hat mir sehr viel Ruhe gegeben und ich war ziemlich hin und weg von dieser Aussicht.




Danach steht Strand auf dem Plan, nicht zum Baden bei dem Wind und den Temperaturen, sondern einfach für das Gefühl. Der nächste Uber fährt uns zurück durch den riesigen Wald, der auch ein riesiger Friedwald ist. Es ist sehr windig, wir setzen uns in ein Café mit Ausblick und weichen Stühlen, ich trinke einen Kaffee mit Schlagsahne und Vana Tallinn, altes Tallinn. Der Likör schmeckt mir wirklich gut so und in Schokolade habe ich ihn ebenfalls getestet. Pur nicht so. Während wir dort sitzen, werden wir Zeugen einer Gender-Reveal-Zeremonie am Strand und ich verliere mich ein wenig in Gedanken, wie es sich angefühlt hat, so kurz davor und wie es sich nun als Familie anfühlt. Später genieße ich den Sand unter den Füßen beim kleinen Spaziergang am Meer. Danach geht’s mit dem letzten Uber des Tages in die Altstadt zum Schlendern. Wir laufen über heftigstes Kopfsteinpflaster, womit man sich locker das Bein brechen kann und vorbei an alten und schönen Gebäuden, gesäumt von Cafés und Läden aller Art. Wie uns erklärt wurde, waren die Esten früher Heiden. Durch unterschiedlichste Einflüsse ist nun für viele verschiedene Glaubensrichtungen ein Haus Gottes zu finden, irgendwo. Nur Muslime scheint es hier nicht so zu geben, was ich durchaus interessant fand. Denn warum nicht? Unser letzte richtige Stop heute ist das banned books museum. Auf kleinstem Raum sind hier Bücher aus aller Welt ausgestellt, der Betreiber ist mit Herzblut bei der Sache. Für jedes der Ausstellungsstücke gibt es eine Erklärung, wo und warum es verboten wurde. Auch Kinderbücher sind dabei, weil sie über das, was sie tatsächlich darstellen sollten, hinaus missbraucht wurden. Manche Bücher machen schnell Sinn, bei anderen liegt der Knackpunkt im Detail versteckt und hat auch ordentlich Zündstoff für Diskussionen. Nichts zu verstecken haben hier die Autobiografien von Hitler, die zensierte Version liegt aus. Unter’m Tresen hervor kommt im Gespräch dann eine Erstausgabe desselbigen Buches. Ein Geschenk eines deutschen Besuchers, der es beim Entrümpeln fand und es nicht bei sich behalten wollte. Dieser kleine Ort, der mich richtig überrascht und zum Nachdenken angeregt hat, ist ein guter Ort dafür. Zum Abendessen gibt es in einem kleinen Lokal Ramen und Späße mit dem Betreiber. Allein schon der Fakt, dass es während wir saßen, bei mehreren Lampen zu einem Kurzschluss wegen Wasser in der Wand kam, war ein Lacher wert. Noch mehr jedoch stellt dieser Este für viele unter Beweis, dass sie auf den ersten Blick etwas grimmig und distanziert wirken – eigentlich aber offene und lustige Menschen sind. Mach dem Abendessen bin ich schon ziemlich erschlagen, wir laufen in die Richtung des Hotels und entscheiden uns noch für ein lokales Bier im Tap room. Meines heißt Unicorn tears und hat tatsächlich Rosenwasser mit drin. Währenddessen lädt mein Handy in der dortigem Steckdose, den ganzen Tag Bilder machen, Reservierung tätigen und Wege finden zerrt am Akku. Als Abschluss des Tages gönnen wir uns noch Crepes, Estland Style. Sehr lecker und mächtig, meiner mit Banane, Nüssen und Honig. Danach geht’s zum Container und zum Fernsehprogramm, welches uns durchaus amüsiert. Ein weiterer Tag schon wieder rum, aber so viel wahrgenommen und gefühlt.






SONNTAG – „Nett hier, aber waren sie schon mal in Baden-Württemberg?“ Ich war nicht auf der Suche nach diesem Aufkleber, er hat mich gefunden. Ich bin gern Baden-Württembergin. Fakt. Meine Freundin jedoch war auf der Suche nach Vereinskleber und wurde auch fündig, eine Art Tradition. Wir starten langsam in den Tag, packen unsere sieben Sachen und frühstücken. Das Gepäck lassen wir im Hotel zurück und laufen Richtung Altstadt. Hier ist es immer wieder schön grün, viele große Bäume spenden Schatten. Heute habe ich mit der Sonne etwas Probleme, mit so viel hatte ich gar nicht gerechnet. Schnell ist mir zu warm, leider. Trotzdem geht es dem coolsten Weg über Treppen die Stadtmauer empor, die Aussicht Richtung Meer ist toll. Wir spazieren durch die Straßen, an unterschiedlichen Kirchen vorbei und in mehrere Bernstein-Läden. Schließlich ist Bernstein das Gold der Ostsee und gelernt haben wir, dass es mehr als nur den typischen Bernstein gibt. Unterschiedliche Farben und damit andere Herkunft oder anderes Alter waren interessant, z.B. soll der grünliche Bernstein durch Salzgehalt grüner werden und weißer Bernstein gehört zum ältesten Bernstein. Wir haben uns was mitgenommen, natürlich. Danach stoppten wir ein bei Pierre Chocolaterie, einem Café im Hinterhof seit 1937. Wie aus einem Film, Tauben und Spatzen überall und wild zusammengestellte Tischdecken und Kissen. Ich hole mir einen Hauskuchen – letztlich haben wir in Tallinn stets gut gegessen und leckeres lokales Bier getrunken. Und noch nie habe ich in einem Land so viele bunte und schwarze Toiletten gesehen, also alles schwarz. Wirklich auffällig. Zum Mittag erklimmen wir die Olaikirche, benannt nach König Olaf von Norwegen. Aus Irrtum wurde die Kirche im 16. Jahrhundert als höchstes Gebäude der Welt bezeichnet. Auch wenn das nicht wahr ist, 60 Meter hoch zur Aussicht im super engen Treppengang ganz schön heftiger Sport. Oben angekommen, komme ich mit der Höhe und Enge der Aussichtsplattform nicht klar und bleibe am Eingang, wo ich mich noch am Wohlsten fühle. Unser nächster Stop ist das Museum für moderne Kunst, leider nicht so toll. Am meisten kommt dieser eine Spruch aus der Sitzecke bei mir an. Manchmal ist Leere und Einfachheit genug Ausdruck.

Wir gehen Mittagessen und für einen letzten Kaffee ins etwa 200 Jahre alte und somit ältestes Café der Stadt. Unser letzter Uber fährt uns zum Flughafen, im Hotel hatte ich mich gerade umgezogen, weil mir heute schlichtweg zu warm ist. Der kleine Flughafen hat keine neuen Körperscanner, sondern die alten. Ich freu mich direkt, für mich selbstverständlich: ich laufe durch, Nichts piept. Denn der Beutel ist Plastik und kann nicht piepen. Einen weiteren Spaß erlaube ich mir noch, weil mich die Regelung auch etwas nervt: 1 Liter. Nicht 1 Liter Flüssigkeit im Handgepäck, sondern Flüssigkeiten je bis max. 100 ml in einem 1 Liter Tütchen. Ich werde natürlich rausgezogen für mein Gepäck, dann spielen der Sicherheitsbeamte und ich Tetris, damit ich meine zwei Gläser Honig mit allem Kram in das 1 Liter Tütchen passen und mit allem nach Hause fliegen kann. Der Flug vergeht rasch, der Frankfurter Flughafen hat Stau im Abholterminal der Lufthansa und trotzdem passt alles super, denn in zehn Sekunden sind die Koffer und wir auch ohne Parkplatz im Auto verstaut. Nach Hause gehen fühlt sich immer schneller an und somit flitze ich mit 160 in meinem Polo über die Autobahn, höre Musik und kann es nicht erwarten, nach Hause zukommen. Ich bin schon immer gern weggefahren, weil es mich raus zieht. Und zugleich bin ich immer sehr gern wieder heim gekommen und noch niemals so sehr, wie dieses Mal. Ich wollte zu meiner Familie, zu meinem Kind. Meine Sehnsucht nach ihr war enorm und über das Wochenende hinweg haben mich so viele Dinge an sie erinnert. Obwohl wir uns Sprachnachrichten zum Morgen und Abend geschickt haben, war es nicht genug und im Auto kullern Tränen, weil ich sie so so gern in meinem Leben haben möchte. Mein Herz wird leichter als ich den Polo ausstelle und ins Haus laufe. Ich löse Papa ab und lege mich stattdessen neben mein kleines schlafendes Wunder, starre es voller Glück an. Ich bin angekommen, geerdet.
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