#trotzCED

Schon eine Weile schwirrten Gedanken in meinem Kopf herum, die ich in Worte zu fassen versuchte. Gedanken, die mir wichtig erschienen und meiner Wahrheit entsprachen, für mein Leben. Aber diese waren in der Tat irgendwie zusammenhangslos, wirr und der große Kontext fehlte ebenso. Und manchmal, wenn das große Bild noch nicht ersichtlich ist, das gewisse Etwas noch fehlt oder so ähnlich, passieren Dinge. In diesem Fall war das Ding eine E-Mail zur richtigen Zeit. Danke Rafael. Darin wurde ich bekanntgemacht mit einem Hashtag, der mich, ohne mir dessen vorher bewusst zu sein, sehr berührte. Und da war er, der Kontext und das umherschwirrende Gedankenchaos war wie weggewischt. Die Überschrift ist hier also nun Programm. Über die Jahre bin ich ein Vertreter von es-gibt-immer-zwei-Seiten-der-Medaille geworden. Aus unterschiedlichen Gründen, denke ich. Man hat ein anderes und angenehmeres Leben, nimmt sich selbst Druck, gestaltete sein Denken offener und kann manchmal festgefahrene Leute damit ärgern, was wiederum ein bisschen Spaß macht. Was ich damit sagen möchte ist, dass es sich oft lohnt, eine andere Sichtweise in Betracht zu ziehen. #trotzCED ist für mich deswegen Lektion und Motto zugleich. Der Unterschied ist sehr einfach erklärt. Stellt man sich vor, dass man sein Gegenüber fragend beäugt, dabei eine Augenbraue kritisch hochzieht und vielleicht sogar etwas die Augen verdreht, dann hat man das Hashtag als Lektion im Blick. Steht man aber mit leicht geschwollener Brust da, mit breitem Lächeln und strahlenden Augen und kann verlauten lassen „Ja, das habe ich geschafft!“, dann ist das dem Motto nachempfunden. Beide Bereiche kann ich aus eigener Erfahrung untermauern.

Die Lektion besteht aus erlaubten Luxusproblemchen, den normalen Problemen und nun ja, den unnötigen und schädlichen Überreaktionen. Natürlich darf man auch mal Luxusproblemchen haben, trotz Crohn und Beutel. Das ist völlig okay und ehrlich gesagt tut es gut, sich das ausnahmsweise leisten zu können. Da fühlt man sich ein bisschen normaler, ich jedenfalls. Es bedeutet, dass ich ein Problem sehe, wo in Wirklichkeit gar keines ist und das nennt sich auch First World Problem. Mein persönlicher Favorit ist da wohl der Freizeit-Stress oder die Fragen, wann trifft man sich mit wem wo und wozu, wohin geht es in den nächsten Urlaub und was kann man noch unternehmen. Die meiste Zeit ist das für mich sehr gute Lebenszeit, nur manchmal wird es zu viel und dann fühle ich mich unter Druck gesetzt und das gute Gefühl verschwindet. Ein absolutes Luxusproblem. Darauf kommen die wirklichen Probleme, die normalen Probleme eines jeden Menschen. Kranke Menschen und gesunde Menschen haben die zu tragen, aber kranke Menschen müssen das trotz Krankheit bewerkstelligen. Das wird gern vergessen, ja, trotz Crohn und Beutel suche ich auch noch Lösungen für normale Probleme. Zusätzlich. Zusätzlich zu Sorgen, Schmerzen und Angst; wer das anzweifelt, den würde ich manchmal gern mit hochgezogenen Augenbrauen anschauen und bestimmt sagen „trotzdem!“. Die normalen Probleme fressen ganz schön viel Energie und jeder könnte darauf verzichten. Die letzten Jahre im Blick, waren das in meinem Fall besonders Schwierigkeiten in der Familie, Probleme im Job oder die Unzufriedenheit im eigenen Körper, nicht aber wegen dem Beutel. Und dann kommen Lösungen für die Probleme zustande, man ist froh um ein Problem weniger und bald folgt schon irgendein Ersatz. Das normale Leben eben. Last but gewiss nicht least, die dritte Lektion, bei der ich mich auch immer wieder ertappe. Inzwischen ertappe ich mich aber öfter und denke mir dann „Nö, das ist es mir nicht wert“. Man bekommt ein Gefühl dafür und das Gefühl wird stärker, je mehr man sich ertappt. Es geht um unnötige Überreaktionen, weil man sich zu wichtig nimmt. Grundlegende Einstellungen, zum Beispiel perfekt sein zu wollen oder eine völlig unbegründete Meinung zu vertreten und es Leuten aufzudrängen. Situationen, über denen man einfach stehen sollte und denen man keine Aufmerksamkeit widmen muss. Menschen schaden sich damit selbst, weil sie sich mit Dingen beschäftigen, die sie nicht ändern können, die sie nichts angehen oder noch schöner, die absolut unwichtig sind. Es ist verschenkte Energie für gesunde oder kranke Menschen, das ist nicht mal ausschlaggebend. Wenn ein gesunder Mensch das macht, soll er das machen. Aber trotz Crohn und Beutel würde mir nie einfallen, mich dauerhaft und bei jedem wichtig zu machen, mich überall einzumischen und alles ändern zu wollen. Ich versuche, vor meiner eigenen Haustür zu kehren, wie man so schön sagt. Mein persönlicher Favorit der unnötigen Reaktionen ist das Aufregen beim Autofahren. Ich beherrsche es schon fast zur Perfektion; muss mich immer wieder ermahnen, dass es das nicht wert ist. Ich kann die anderen Autofahrer nicht ändern und muss einfach darüberstehen, mich um mich und mein Auto kümmern. Oder aber meine Abneigung gegen gewisse ausländische „Politiker“ – ich verstehe nicht, warum man Befürworter ist aber ich kann es nicht ändern, soll der Andere doch Befürworter sein und mich damit in Ruhe lassen. Und das ist wohl der wichtigste Moment – wenn man lernt, seine Energie nicht zu verschenken. Konversationen mit anderen Menschen sind seit dieser Erkenntnis, welche es ist, nicht einfacher geworden. Denn sehr viele Menschen sind so, reden so, unnötig und schädlich. Es ist der Wahnsinn. Achtet mal darauf, nur einen Tag. Es wird euch die Schuhe ausziehen. Meckern ist immer einfacher, anderen die Schuld geben. Wirklich einfach. Meine Überzeugung ist: kehre vor deiner eigenen Haustür, übernimm Verantwortung für Dinge, die dir wichtig sind und wende dich richtig ab von Dingen, die dich nicht weiterbringen. Suche eine Balance für dein persönliches Wohlbefinden.

Balance

Bringt mich die unnötige Reaktion über den „Politiker“ meinen Zielen näher oder macht es mich mehr zu dem Menschen, der ich sein will? Natürlich nicht. Mir ist wohl bewusst, dass sich diesen Schuh nicht jeder anziehen will oder kann. Weil es für viele Menschen keine schöne Erkenntnis ist, Zeit, Energie und Leben verschenkt zu haben. Aber gerade, wenn man krank ist, sollte man alles daransetzen, seine Kraft in den wichtigen Momenten einzusetzen. Denn sonst bist du #trotzCED ein Idiot oder einfach ein Arsch – CED ist keine Ausrede, sondern sollte Ansporn sein. Ansporn, etwas Gutes zu schaffen.

Und somit genug der kritischen aber notwendigen Worte, her mit der Motivation, dem Antrieb. Das Motto #trotzCED versuche ich stetig auszuleben, es ist einer der Gründe, warum ich überhaupt schreibe und es ist das, was mich an manchen Tagen überhaupt aufstehen lässt. So dachte ich nicht schon an Tag 1, es ist ein Prozess und diese Sichtweise wird immer stärker in mir. Von mir ausgehend, muss ich das wieder etwas unterteilen, in Emotionen und im Greifbares. Ich war schon immer und bin trotz sowie gerade wegen der Krankheit immer noch ein sehr emotionaler Mensch. Starke Emotionen, gut wie schlecht, die Schönheit von Dingen im Detail und die Kraft von Erinnerungen. Das ist etwas, wovon ich lebe, was mein Leben bereichert. Ich bin weit weg von Abgestumpftheit oder Gleichgültigkeit. Das Gefühl von Freudentränen, die einem die Wange herunterlaufen während du die Welt umarmen willst. Der Lachflash, der dich heulend und quietschend auf dem Boden herumrollen lässt. Kleine Glücksmomente, ergreifende Momente, Heulattacken weil so viel raus muss und man sonst innerlich ertrinkt, laute Momente und die leisen Augenblicke und dieses eine Lied, was einen zehn Jahre zurückversetzt. Gefühle sind unbezahlbar, Parameter für das Leben, Ansporn und Warnung. Ohne Gefühle wäre ich nur ein kranker Haufen Fleisch, aber mit Gefühlen bin ich ein Mensch, der sich trotz Allem nicht unterkriegen lässt und weitermacht. Mich berühren Emotionen und dafür bin ich dankbar. Die Wertschätzung von guten Momenten hat sich mit der Krankheit enorm gesteigert, denn ich weiß, dass es nicht immer gut ist und inzwischen weiß ich auch, dass es manchmal schneller vorbei ist, als man es überhaupt begreifen kann. Das Leben spüren, das kann ich trotz Crohn und Beutel. Und ich kann auf einiges zurückblicken, was ich in den letzten Jahren geschafft. Abschlüsse, Erlebnisse und die Entwicklung meiner Selbst; all das gehört dazu.

Trotz üblem Erstschub schloss ich mein Abitur ab und zog kurz nach der Krankenhausentlassung vom Schwarzwald nach Potsdam. Auch das Studium beendete ich trotz Schüben wie alle anderen. Ich wohnte die meiste Zeit allein in meiner kleinen Bude und führte zwei Jahre eine Fernbeziehung, die mich wegen der Zeitverschiebung oft nachts wachhielt. Wie ich das hinbekommen habe, weiß ich nicht. Ich arbeitete nebenbei und war Teil eines Unternehmens, welches mich sehr gut behandelt hat – so war ich zum Beispiel Teil der großen 30-Jahr-Feier auf der Expo in Hannover mit tausenden Anderen. Und Feste ohne Alkohol, das ging auch. Dabei hatte ich den größten Spaß, die Bilder zu schießen, an die sich am nächsten Tag nicht mehr jeder erinnert.

 

Ich habe immer wieder neue Menschen kennengelernt, Freundschaften geschlossen und Menschen auch aus den Augen verloren. Das Aktiv-sein fällt mir nicht immer leicht aber dadurch sieht man neue Dinge, entdeckt schöne Flecken, Orte und Länder. Allein, mit der Familie, den Lieblingsmenschen oder meinem Mann – es sind Erinnerungen für die Ewigkeit. Ohne das Reisen wäre ich ein anderer Mensch.

 

Und dann sind da noch die kleinen sowie großen Wünsche und Genussmomente. Da darf der riesige Eisbecher meiner Lieblingseisdiele nicht fehlen. Mit meinem Mann und auch allein erlebte ich schon Sachen wie einen Fallschirmsprung vor dem Stoma, eine Ballonfahrt mit total genialer Aussicht auf die Alpen oder aber auch mein absolutes Traumauto, welches in meinem Leben immer wieder vorkommt (Bilder 2012 + 2016). Als Hochzeitsauto gab es dann einen Oldtimer der selben Marke. Tierliebe gehört auch zu meinen kleinen Wünschen, denn so ein kleines Wesen bereichert das Leben ungemein. Auch das sich verändern habe ich für mich entdeckt. Es sind nur Haare und wir sind ja schließlich nicht bei GNTM. Die wachsen nach und wenn man so viel herzugeben hat, kann man die ruhig spenden – damit andere, die keine Wahl haben, Haar haben dürfen.

 

Ich bin stolz auf alle meine Jahre, auch wenn einfach nicht immer alles möglich ist. Denke ich aber drüber nach, muss es das gar nicht. Das, was tatsächlich stattgefunden hat, das, was ich mir erkämpft habe oder das, was mir widerfahren ist, ist es schon wert. Jeder Moment ist es wert, durchzuhalten. Jeder Moment des Leids soll irgendwann von einem Moment des Glücks begleitet werden. Durchhalten ist es, was wir #trotzCED beherrschen und gerade deswegen echt gut können. Dazu habe ich ein letztes Bild, welches ich stellvertretend zeigen möchte. Es entstand in Norwegen am Preikestolen, einem glatten Felsvorsprung über einem Fjord. Ich bin ehrlich, ich hatte damals keine gute Kondition und man muss dort natürlich hinwandern, auf unbefestigten Wegen und steile Steintreppen empor. Der Weg zu diesem Bild betrug 2,5 Stunden – in denen ich mehrfach ernsthaft überlegt, einfach umzudrehen. Ich war nicht nur körperlich, sondern auch im Kopf so dermaßen angestrengt, dass ich mehrfach anfing zu weinen. Aber ich wollte mir beweisen, dass ich es schaffen kann. Mein frisch gebackener Mann drohte mir schon, seine Ehemannpflichten auszuweiten und mich zu zwingen, weiterzulaufen. Nicht, weil er gemein war, sondern weil er wusste, dass ich mich selbst nicht mehr leiden könnte, wenn ich aufgab. Trotz biestigem Wind, unglaublichen Aufstiegen und meinem Unwohlsein lief ich weiter. Wir sind alle auf einem Weg, der nicht immer nur geradeausführt. Einem Weg, auf dem wir auch auf die ein oder andere Weise begleitet werden. Einem Weg mit Ziel und dieses Ziel ist es wert.

Durchhalten

#trotzCED kommen wir – irgendwann und irgendwie – aus eigener Kraft an.
An einem Ziel oder einfach bei uns.

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