Der Beginn meiner Reise mit dem Crohn

Ich kann inzwischen schon gar nicht mehr sagen, wie oft ich es probiert habe, diesen Text zu schreiben. Sinnvoll wiederzugeben, was passiert ist und eine runde Sache daraus zu machen. Aber es wird sich nie wirklich rund anfühlen, perfekt. Es ist nur ein Versuch, die Extreme zu formulieren, die ich damals empfand. Damals, als meine Reise mit dem Crohn begann. Eine Reise, auf der der Weg tatsächlich das Ziel ist. Eine Reise ohne Ende. War mein bisheriges Leben eben nicht von Krankheit geprägt, änderte es sich hiermit schlagartig. Unerfahren war ich im Umgang mit Ärzten, Medikamenten und körperlichen Schmerzen. Fast zehn Jahre liegt es nun zurück und in einer Dekade lernt man doch sehr viel dazu, wenn man es darauf anlegt. Mit dieser Erfahrung bin ich nicht allein. Viele Menschen mit CED haben solche Geschichten von Schmerz, Leid und Schwäche zu erzählen. Viele Menschen wissen genau, wovon ich spreche und können sich wahrscheinlich wiederfinden in der einen oder anderen Situation. Wir reden von etwa 300.000 Menschen mit Morbus Crohn, so viele sollen es laut einer offiziellen Statistik in Deutschland sein. Folgende Zeilen sind also irgendwie stellvertretend für tausende Betroffene aber sie sind auch genau für die, die gar nicht wissen können, wie sich das anfühlt. Für die, die verschont blieben und nur zusehen können, ohne zu wissen, was genau passiert.

Alles kam ins Rollen, als ich auf meine Abschlussprüfungen des Abiturs lernte. Monatelang bereitete ich mich darauf vor, denn es gab so viel zu wissen. Ich lernte gern am Abend, sitzend an meinem Schreibtisch oder auf meinem Bett liegend, für mich. Dabei war ich ruhig und konzentriert. Mein Leben bestand tatsächlich aus Lernen, es war meine Hauptaufgabe, zielgerichtet wie ich war. Über Monate hinweg hatte ich einen Plan und die Wochen schienen irgendwie alle gleich. Natürlich aß ich im Rahmen der Ausnahmesituation und des Lernens zu viel Süßes und unregelmäßiger. Beim Lernen fühlte ich keinen unerträglichen Stress, fühlte mich eher motiviert und energiegeladen. Nicht gequält, verloren oder unrettbar unter Druck. Ich war voller Elan, denn mein eigenständiges Leben stand vor der Tür. Und obwohl ich unsicher war bezüglich aller Details, war ich zuversichtlich und neugierig. Ich freute mich. Mein Körper schien die Situation aber anders aufzufassen als mein Kopf, denn er begann langsam, gegen mich zu arbeiten. Ich bekam regelmäßig Durchfall und Bauchkrämpfe. Das führte ich auf die Ausnahmesituation zurück und erachtete es nicht als dramatisch. Klar, ich hing öfter auf dem Klo. Aber ich war mir sicher, dass es bald vorbei sein würde. Wunschdenken, denn es blieb und ging nicht weg. Nach der Lernphase ging ich in die Prüfungsphase über und schrieb erträglich Noten in Mathe, Deutsch, Englisch und Biologie. Um das Klo während der Prüfung zu vermeiden, aß ich meine mitgebrachte Stärkung erst ab der Hälfte der Zeit. Das verschaffte mir meist Ruhe während der Prüfung. Ich bestand mein Abitur und versendete Bewerbungen für einen Studienplatz. Jetzt würde es besser werden, hoffte ich.

Wirklich schlimm wurde es erst danach. Ich sah ein, dass es nicht normal sein konnte und ging zum Arzt. Einem Internisten, sogar einen Gastroenterologen, einem verdammten scheiß Spezialist. Einige Wochen und dann Monate lang ging ich immer wieder zu diesem Arzt. Berichtete von meinem Zustand, was die Nahrungsmittel mit mir machten, was mir wie weh tat und wand mich hilfesuchend an ihn. Ich bekam meine erste Darmspiegelung, schlafender Weise. Auch die Blutwerte wurden untersucht. Letztendlich fiel dem Arzt nur ein Riss in meinem Enddarm negativ auf. Nichts ließ beim ihm die Alarmglocken läuten. Ich erzählte ihm von den Schmerzen und bekam lange nichts dagegen verschrieben. Ich ging selbst von Apotheke zu Apotheke und deckte mich mit Ibuprofen ein. Das kannte ich. Ich aß die Tabletten fast wie Smarties, aber die Wirkung ließ stark zu wünschen übrig und so hatte ich weiterhin Schmerzen. Medikamente gegen normalen Durchfall verschrieb er mir, aber das waren wie Tropfen auf einen heißen Stein. Komplett sinnlos. Heute ärgere ich mich manchmal über meine Dummheit, über meine Naivität. Ich hätte schlauer sein müssen, dem Arzt genau erklären, was für eine Hilfe ich suchte. Den Arzt wechseln, mich selbst schlauer machen. Aber ich hatte keine Erfahrung und war heillos überfordert. Also dackelte ich fast jede Woche in diese Praxis, um zu berichtet… damit nichts passiert. Der Arzt schien meine Sorgen nicht zu teilen und bald war ich überzeugt, dass ich nur verrückt wurde und mir alles einbildete. Ich stellte mich selbst in Frage und fühlte mich total verloren und im Stich gelassen. Als ich nach Monaten wirklich nicht mehr konnte, wurde ich eingewiesen – damit man mal schaut. Ein Facharzt, der nach so langer Zeit nicht sieht, was Laien hätte vermuten können und fast untätig bleibt, hat den falschen Job. Ja, Crohn ist oft schwierig zu diagnostizieren. Andere Betroffenen brauchen Jahre bis zur eindeutigen Diagnose. Aber nicht in meinem Fall. Das Leid hätte früher ein Ende haben können, hätte ich die Sache anders angepackt. Aber wie hätte ich es wissen sollen. Es lässt sich nun nicht ändern, auch diese Erfahrung gehört zu mir.

So etwas hatte ich noch nie erlebt und habe es seither in dieser Intensität und über Monate Gott sei Dank auch nie mehr. Es wirkte sich auf alles in meinem Leben aus und das sind nur ein paar Beispiele aus diesen Monaten. Es kam die Zeit, in der ich mich nicht mehr bewegte, so sehr tat alles weh. Der Dauerschmerz lähmte mich. Eigentlich war ich immer ein unruhiger Schläfer gewesen, wälzte mich viel bis ich eine Schlafposition gefunden hatte. Meistens lag ich dann auf dem Bauch. Nun war alles anders. Ich legte mich auf den Rücken und legte ein Kissen unter meine Knie. Somit war der Bauch zumindest etwas entlastet und diese Position verursachte am wenigsten Schmerzen. Ich weinte mich oft in den Schlaf, erschöpft wie ich war. Am nächsten Morgen wachte ich auch genauso auf. In der gleichen Position, Morgen für Morgen, schon morgens erschöpft. So simple Bewegungen wie aufstehen, laufen, bücken, etwas heben, egal welche Bewegung es war – ich hasste sie alle und so bewegte ich mich nicht, wenn ich es nicht musste und wurde untätig. Laufen war nur noch langsam möglich, ich erinnere mich, dass ich mit meinem besten Kumpel unterwegs zur Schule war und wir für die übliche Strecke viel länger brauchten. Auch beim jährlichen Stadtfest, bei dem ich bisher immer aktiv mitgewirkt hatte, stand ich nur schwächelnd dabei. Mein damaliger Freund war mit mir dort, aber ich musste mich früher als gewollt verabschieden und den Nachhauseweg antreten. Für eine Strecke, die sonst fünfzehn Minuten in Anspruch nimmt, brauchte ich eine ganze Stunde. Kleine Schritte, langsame Bewegungen und viele Pausen mit Sitzen führten dazu. Der Wille, endlich hin liegen zu können, trieb mich an. Es war dunkel, keiner sah mich und ich war allein. Allein mit meinen Schmerzen, die schon lange zu einer Qual geworden waren. Eine Qual, die keiner sah. Irgendwann ist man dann alleine mit sich und seinen Gedanken; erklärt sich selbst für verrückt und verzweifelt. Ich landete nach der Stunde Laufen erst mal schön auf dem Klo, um mich dann auf diese eine Art und Weise ins Bett zu legen. Allein. Durch die Unsichtbarkeit dieser Krankheit und dem Zustand, den ich niemandem auf die Nase binden wollte, wurde ich einsam und zog mich sehr zurück. Meine Freunde sah ich nicht mehr so oft und auch mit meinem Freund konnte ich nicht mehr gut mithalten. Trotz Zähne zusammen beißen war ich machtlos. Ich war einfach schwach und außer ihm hatte ich nicht viele auf meiner Seite, die mehr wussten, als man eben tatsächlich sah. Er jedoch wusste, dass ich es mir nicht ausgesucht hatte, aber so hatte er sich das natürlich auch nicht vorgestellt. Er sah mein Leid und versuchte, für mich da zu sein. Er sah, was man nicht sehen konnte. Wir gingen tatsächlich noch auf Reisen, an die Ostsee.

2008.4

Darüber hatte ich bereits erzählt (Ein Crohner, der ohne Reisen nicht sein kann) und es waren schöne Momente dabei, aber auch auf viel Erschöpfung. Ich wollte mir die Schmerzen nicht anmerken lassen, vor Freunden oder irgendwem außerhalb des Hauses. Vielleicht war das ein Fehler, vielleicht aber auch einfach nur meine Art. Und im Rückblick gesehen habe ich das sehr gut geschafft, denn fast niemand wusste, wie es mir über die Monate wirklich ging. Es war unsichtbar und irgendwann begann ich, mich unsichtbar zu fühlen. Ich war mit meiner Qual in meinem Körper wie in einem Gefängnis eingesperrt. Freunde können mir heute noch bestätigen, dass ich zwar ruhiger wurde, aber niemandem bewusst war, wie schlecht es mir ging. Sicherlich war es auch Gesprächsthema in der Schule, aber davon bekam ich nichts mit und selbst wenn, ich hätte keine Kraft gehabt, mich darum zu kümmern. Mein Mitteilungsbedürfnis war minimal, denn man nahm mich nicht ernst, grad der Arzt nicht. Das wirkte sich auf andere aus, zu Unrecht. Am liebsten wäre ich vor mir selbst weg gerannt. Dumm wie ich war, setze ich jedes Essen mit Schmerz gleich und entsagt dem Essen. Ich wollte irgendwann nicht mehr essen. Das, was ich über den Tag mit der Nahrung aufnahm, war viel zu wenig. Brühe und Zwieback, das war der Standard. Nicht in Mengen, sondern einfach ein bisschen. Ich probierte zwar auch anderes, aber es war nie gut tuend. Einmal saß ich da, im Wohnzimmer vor einer kleinen Schüssel Brühe mit Zwieback. Widerwillig versuchte ich es zu essen. Eigentlich wollte ich nicht. Meine Mama sah mir zu, hilflos und überfordert, so wie ich auch. Sie wurde kurz wütend, aber nicht, weil sie wütend war, sondern aus Angst schrie sie mich an: Dann werde doch auch noch magersüchtig! Das brachte mich erbärmlich zum Heulen. Nicht, weil ich ihr böse war oder traurig wegen dem Ausbruch. Ich realisierte eher, dass ich die Kontrolle verloren hatte. Ich hatte es nicht mehr im Griff. Ich war am Ende und das meinte ich wirklich so. Ich wollte, dass es aufhört. Ich wollte wegrennen vor mir selbst. Vor dem, was nicht mit mir stimmte. Egal wie. Und wenn es vorbei wäre, dann wäre es ebenso. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht wusste, was mir fehlt. Keiner schien es zu wissen, was mir fehlte. Trotz Kontrollverlust machte ich weiter, tief drin wollte ich doch leben. Es gab so viele Gründe dafür. In zwei Monaten nahm ich über zwanzig Kilo ab. Nicht auf eine gesunde Art und Weise, nein. Ich war abgemagert, fahl mit brüchigem Haar und mit allen möglichen Mangelerscheinungen. Durch die Erschöpfung meines Körpers wurden mir zusätzlich noch zwei Begleiterscheinungen zuteil: Erythema nodosum zum Beispiel, eine Überreaktion der Haut ab den Knien abwärts. Ich hatte wahnsinnig viele dieser schön blauen Knoten und jede Berührung war schrecklich. Deswegen waren die Beine Wochenlang komplett bandagiert, darunter war eine Creme zur Linderung. Meine M. zeigte mir damals mit Ihrer Roten Kreuz Erfahrung, wie ich die Bandagen am besten anbrachte, damit diese hielten und nicht so schnell runter rutschten. Und zum anderen hatte ich einen üblen Ausschlag oder eine Art Infektion im Intimbereich, es schien als täte sich das Gewebe auffressen. Vom Sex kam das gewiss nicht, denn der war durch meinen Zustand überhaupt nicht existent. Meine Frauenärztin behandelte mich, ich musste sogar zur Gewebeentnahme ins Krankenhaus, wo ich wieder schlafen durfte. Der Körper, einmal geschwächt, fängt sich Sachen ein, es war unglaublich. Meine Muskeln hatten sich über die Monate abgebaut, was Bewegungen noch schwerer machte und meine Periode blieb komplett aus. Was unter dem Bezug vom so gelobten BMI noch als Normalgewicht galt, war in meinem Fall einfach nur krankhaft. So viel zu dieser beschissenen Zahl, die nicht für jeden in jedem Zustand einfach angenommen werden kann. Das Klo daheim wurde zu meinem Ort der Orte. Das Klo war toll, ein gemütlicher kleiner Raum in blau. Ich konnte, wenn ich wollte und erschöpft war, mich nach links oder rechts anlehnen und sogar nach vorne, gegen das Waschbecken. Ich war sogar mal weggenickt mit der Stirn am Handwaschbecken. Aber selbst wenn das Klo nah war, der Schmerz verwirrte meine Wahrnehmung, wann ich tatsächlich musste. Und eh ich dann, so langsam wie ich schlussendlich war, aufstand und den Weg zum Klo angetreten war, … nun ja, es gab mehr als nur einen Unfall. Ich schaffte es manchmal einfach nicht schnell genug. CEDs sind schon von Natur aus entwürdigend, in vielen Momenten. Diese Momente machten mir das immer wieder bewusst. Was für eine Scheiße. Kurz vor meiner Einweisung fanden die unterschiedlichen Feierlichkeiten zum bestandenen Abitur statt. Erst das Fest auf einem Acker mit einem Zelt – ohne Eltern, mit Alkohol und ganz legere. Wir trugen unsere Abi-Pullis, so wie ich auf dem Bild. Zum Vergleich ein Bild ein Jahr später. Viel gesünder.

Ich stellte mich als Fahrer zur Verfügung, ich war eh nicht mehr fähig, Alkohol zu verarbeiten und das Auto konnte ich noch so bedienen, grenzwertig manchmal. Ein paar Mal mischte ich mich unter das Volk, zum Reden und Bilder machen. Aber oft saß ich am Rand auf einer Biertischbank und beobachtete alle. Ab und an kam dann jemand, um sich neben mich zu setzen und ein paar Minuten mit mir zu verbringen. Mehr war nicht mehr möglich. Über Tage ging das so und ich hätte mir gewünscht, so gelassen und ausgiebig zu feiern, wie die anderen. Betrogen fühlte ich mich, von der Freiheit beraubt. Danach folgte die offizielle Feier mit Eltern, Lehrern und im Kleidchen. Ich hatte vor Wochen ein Kleid im Laden gekauft, welches ich mir sonst nie hätte kaufen können. Nun war ich ja dünn und ein kurzes schwarzes Cocktailkleid schien mir richtig. Es umspielte meine sehr dünn gewordene Figur und ich fühlte mich ordentlich darin. Aber was passierte dann? Die zwei komplett und fett bandagierten Beine, wie oben beschrieben. Noch im Auto überlegte ich, einen Rückzieher zu machen. Aber ich wollte dieses Kleid anziehen, ich wollte mich nicht verstecken und auf einmal schien jedem klar zu sein, dass es mir wirklich nicht gut ging. Die ersten Minuten war ich extrem verunsichert, die Blicke sagten mehr als tausend Wort. Hauptsächlich waren es diese Mitleidsblicke und viel Getuschel, viele starrten mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. Aber nach einer Weile sah ich es nicht mehr und hatte einen normalen Abend – ich saß nämlich auch hier ziemlich viel rum. Aber die Gesellschaft meiner Klassenkameraden und aller anderen tat mir gut. Erinnerungen an ein paar Lacher kommen mir da, denn es gab ja auch Programm. Ich genoss den Moment so gut ich konnte. Denn ich war mir nicht sicher, wie lange ich das noch schaffen würde. Inzwischen blutete ich auch im Darm, der Blick in die Schüssel war wie ein Horrorfilm. Irgendwann war der Punkt gekommen, dass ich um mein Leben kämpfte. Nach den Festlichkeiten gab ich irgendwie auf. Ich wollte, dass es aufhört und ich meinte es inzwischen so. Nach einem halben Jahre von den aller ersten minimalen Anzeichen bis hin zu den letzten Monaten persönlicher Hölle bekam ich endlich die ersehnte Hilfe und Anerkennung, dass ich nicht verrückt war. Es war echt, es passiert wirklich.

PENTAX Image

Meine Mama kam jeden Tag, brachte mir Tomaten Mozzarella Baguette von Zuhause mit. Eines der wenigen Dinge, die ich überhaupt noch gern aß, weil es schmeckte und da alles Durchfall verursachte, war es egal, was ich aß. Nach zwei Tagen oder so verließ mich mein damaliger Freund, auch darüber berichtete ich schon (LIEBE). Die folgenden Tage unterließ ich das Essen komplett, die Trennung war dabei nur ein Teil, ich wollte einfach nicht. Ich war im Krankenhaus und man sah nach mir. Aber mein Lebensmut war für ein paar Tage auf einem unterirdischen Level, wie ich es nie wieder sehen möchte. Die ersten Tage waren voll mit Untersuchungen, die wichtigste dabei war die Darmspiegelung. Ich hatte so Schmerzen, ohne weiteres Abführen oder Reinigen wurde ich untersucht. Da ich Angst hatte, der Arzt im Krankenhaus würde mich im wachen Zustand anfassen, drohte ich ihm. Es sollte es nicht wagen, mich anzufassen, wenn ich noch wach war, sagte ich. Wenige Sekunden später schlief ich ein. Das Gefühl ist inzwischen eines, welches ich sehr gut kenne. Sich zu wehren bringt gar nicht. Der Geist triftet ab und für ein paar Sekunden fühle ich mich jedes Mal Schwerelos. Ein gutes Schwerelos, was fast süchtig macht. Als ich aufwachte, stand er neben meinem Bett. Er hatte eine Diagnose für mich, es war eindeutig Morbus Crohn. Ich war erleichtert, so viel fiel von mir ab – obwohl ich überhaupt nicht wusste, was das bedeutete. Aber die Qual hatte endlich einen Namen. Was mir nicht klar war, war, dass ich ab nun unsichtbar krank war. Für meine Stellung in der Gesellschaft würde das später mal gut und mal schlecht sein. Dinge mal einfacher machen und mal schwerer. Ich erhielt eine ordentliche Dosis Kortison und wurde streng überwacht mit Blutwerten und so weiter. Meine Blutanämie war zu diesem Zeitpunkt so ausgeprägt, dass ich fast Blut hätte bekommen sollen. Aber ich schaffte es noch, es verbesserte sich rapide. Kortison, Fluch und Segen zugleich. In diesem Moment war es ein Segen für mich. Was mich ärgerte, war, dass man mir einen Psychologen aufdrängen wollte. Da ich so viel Leid ertragen hatte, ohne was zu sagen. Ich war wütend, dass man mir unterstellte, ich hätte keine Hilfe gesucht. Ich habe nur an den falschen Stellen gesucht und ich verweigerte den Psychologen. Ich schlief viel und hatte sogar mal den Luxus, das Krankenhauszimmer für zwei nur für mich zu haben. Ich, mein Bett und mein Rollstuhl. Der war mir eine große Erleichterung bei Strecken außerhalb des Zimmers, wenn ich Besuch bekam oder zu Untersuchungen musste. Und ich bekam oft Besuch, neben dem täglichen Besuch von meiner Mama, auch Besuch von meinem Papa und dem Familienzuwachs Rosi, einer Labradorhündin. Inzwischen ist sie auch nicht mehr die Jüngste, Wahnsinn, wie die Zeit rennt. Papa rollte mich raus in die Sonne und holte sie aus dem Auto, wo er sie geschützt und ausreichend versorgt gelassen hatte. So ein junges Leben und ich, die gerade wieder merkte, was Leben war. Es kamen viele Freunde, denen es nun wie Schuppen von den Augen fiel, dass ich krank war. Erst als ich dort lag, konnten viele sehen, was mein Exfreund schon die ganze Zeit gesehen hatte. Was die letzten Monate mit mir passiert war. Dabei war ich ihnen nicht böse, warum auch. Ich hatte nie großartig gejammert oder jeden über mein Leid aufgeklärt, sondern einfach weitergemacht, so gut mir das möglich war. Deshalb, sagt meine Trauzeugin, hatten die Leute nicht so drauf geachtet. Meine N. hatte zu ihrem Besuch im Krankenhaus schon gesagt, dass ich wie transparent wirkte. Und so fühlte ich mich auch. Aus transparent wurde in zwei Wochen eine Art Wiedergeburt, die mich das Leben seither so sehr wertschätzen lässt. Es war wie eine weitere Chance, das Leben anders zu sehen. Das Leben anders zu genießen, wenn ich die Möglichkeit dazu hatte. Denn das vergisst man zu leicht. Zu leicht gerät in Vergessenheit, was Leben heißt und wie schnell es vorbei sein könnte. Ich verließ das Krankenhaus, zugepumpt und fast schmerzfrei durch Kortison. Ich war am Leben und nahm so schnell wieder Fahrt auf. Ich wurde entlassen und noch im selben Monat zog ich von daheim aus und nach Potsdam, viele hundert Kilometer weit weg, um mein Studium zu beginnen. Ich konnte bei einer alten Freundin wohnen und sie verhalf mir zu einem sehr guten Start. Dafür, my dear, bin ich dir bis heute sehr dankbar. Die Unterstützung von dir und deiner Familie war wunderbar, herzlich und unbezahlbar. Vielen Dank noch mal an dieser Stelle, danke für eine Starthilfe in mein eigenständigeres Leben. So begann meine Reise mit dem Crohn, mit einer Art Wiedergeburt. Klingt total bescheuert, aber so beflügelt fühlte ich mich, als der Schmerz nachließ.

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Den Spruch, über den ich letztens stolperte, passt sehr gut an dieser Stelle. Ich denke, dass ich ein anderer Mensch wäre, ohne Crohn. Aber der Mensch, der ich nun bin, ist gut. Damals wusste ich nicht, wer ich werden würde, wie ich damit umgehen könnte. Die Krankheit annehmen, das war etwas ganz anderes als die Diagnose einfach aussprechen und auch nicht sofort möglich. Es ist ein Prozess, der Weg und das Ziel, die Krankheit anzunehmen, als Teil zu sehen und damit gut zu leben. So gut, wie es einem nur möglich ist. Dann kann macht das Aufstehen wieder Sinn, weil das Leben auch Sinn hat. Das Kranksein wirft mich immer wieder hin und ich stehe immer wieder auf, stärker. Wenn der Weg das Ziel ist, ist dieser Spruch ein guter Leitsatz. Aufstehen. So wie Churchill es schon sagt: „Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“ In diesem Sinne! Als Abschluss möchte ich meine N., die mich schon 20 Jahre kennt, zitieren. Liebste N., ich danke dir für deine Worte, die mich stets aufbauen und danke auch für deine Freundschaft, die hoffentlich für immer und ewig hält: „Wie du dich verändert hast, als du krank wurdest… Puh. Schwierig. Echt schwierig. Vielleicht deshalb, weil ich eigentlich finde, dass du dich gar nicht so sehr verändert hast. Oder vielleicht haben sich deine Eigenschaften einfach noch auf einen weiteren Bereich ausgedehnt, den es so vorher einfach nicht gab. Also konkret: Ich habe dir ja schon mal gesagt, dass du schon immer ein Arbeitstier bist und keine halben Sachen machst, sondern dein Ding durchziehst. Den Eindruck hatte ich zu Schulzeiten. Und nach dem Abi – als du krank wurdest – ging das so weiter: Du bist trotzdem weggezogen, um zu studieren, du hast bei Media Markt gearbeitet, bist oft in die USA gejettet und alles. Also du bist weiter Arbeitstier und aktiv geblieben. Das ist Punkt 1. Und Punkt 2: Du bist doch von deiner ganzen Art immer noch wie früher: Du quasselst ohne Ende und ohne auf den Punkt zu kommen und lachst dich nebenher halb schlapp und hast immer diesen wunderbaren Galgenhumor und bist nicht zu bremsen. War damals so und ist immer noch so! ;)) Gott sei Dank!!! Ich finde, du gehst wahnsinnig souverän mit deiner Krankheit um, bist kein Jammerlappen, heulst nicht unnötig rum. Du ziehst trotzdem immer noch dein Ding durch und lässt dich (sagen wir in einem gewissen Rahmen) nicht einschränken.“

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